Erzählperspektive
Autor: Silvan Maaß
Geschichten haben die einzigartige Fähigkeit, uns in fremde Welten zu entführen, Emotionen zu wecken und tiefere Einsichten zu vermitteln. Ein entscheidender Faktor dafür, wie wir eine Geschichte erleben, ist die Erzählperspektive. Genau hierüber erfahrt ihr hier alles Wissenswerte.
1. Was ist eine Erzählperspektive?
Eine Erzählperspektive bezeichnet den Standpunkt oder die Sichtweise, aus der eine Geschichte erzählt wird. Sie bestimmt, wer die Ereignisse beschreibt, wie viel die Erzählerfigur weiß und wie nah der Leser an den Gedanken und Gefühlen der Charaktere ist. Die Wahl der Erzählperspektive beeinflusst maßgeblich die Struktur, den Stil und die Wirkung einer Erzählung.
2. Welche Erzählperspektiven gibt es?
- Ich-Erzähler
- Er/Sie-Erzähler (personaler Erzähler)
- Allwissender Erzähler (auktorialer Erzähler)
- Neutraler Erzähler
Ich-Erzähler
- Beschreibung: Die Geschichte wird aus der ersten Person Singular (ich) erzählt. Der Erzähler ist oft der Protagonist oder eine wichtige Figur innerhalb der Handlung.
- Beispiel: "Ich ging die Straße entlang und fühlte den kalten Wind auf meinem Gesicht."
Er/Sie-Erzähler (personaler Erzähler)
- Beschreibung: Der Erzähler berichtet in der dritten Person Singular (er/sie) aus der Perspektive einer oder mehrerer Figuren, ohne selbst Teil der Handlung zu sein. Er hat jedoch nur begrenzten Einblick in die Gedanken und Gefühle der Charaktere.
- Beispiel: "Er ging die Straße entlang und spürte den kalten Wind auf seinem Gesicht."
Allwissender Erzähler (auktorialer Erzähler)
- Beschreibung: Der Erzähler hat uneingeschränkten Zugang zu den Gedanken, Gefühlen und Erfahrungen aller Charaktere und kennt alle Ereignisse der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, siehe auktorial.
- Beispiel: "Er ging die Straße entlang und spürte den kalten Wind auf seinem Gesicht, während er an die Ereignisse des vergangenen Tages dachte."
Neutraler Erzähler
- Beschreibung: Der neutrale Erzähler ist eine besondere Erzählperspektive, die in der Literatur genutzt wird, um eine Geschichte auf eine sachliche, objektive Weise zu vermitteln. Diese Perspektive zeichnet sich dadurch aus, dass der Erzähler keinerlei Einsicht in die Gedanken und Gefühle der Charaktere hat und lediglich das äußere Geschehen beschreibt.
- Beispiel: "Er ging die Straße entlang. Ein kalter Wind wehte ihm ins Gesicht."
3. Bedeutung der Erzählperspektive
Die Erzählperspektive spielt eine zentrale Rolle in jedem narrativen Text, da die Wahl der Erzählperspektive die Stimmung, die Tiefe der Charakterdarstellung und die Art und Weise, wie Informationen vermittelt werden, erheblich beeinflussen kann. Hier sind die wichtigsten Bedeutungen und Funktionen der Erzählperspektive:
- Steuerung der Leserwahrnehmung
- Intensität und Nähe
- Verlässlichkeit und Glaubwürdigkeit
- Informationskontrolle
- Stil und Ton
- Thematische Tiefe
3.1 Steuerung der Leserwahrnehmung
Die Erzählperspektive lenkt die Aufmerksamkeit der Leser auf bestimmte Aspekte der Geschichte und formt deren Verständnis und Interpretation. Zum Beispiel bietet eine Ich-Perspektive einen unmittelbaren, subjektiven Einblick in die Gedanken und Gefühle des Erzählers, während eine auktoriale Perspektive einen umfassenden Überblick über die Gedanken und Gefühle mehrerer Charaktere sowie Hintergrundinformationen bietet.
3.2 Intensität und Nähe
Die Wahl der Perspektive beeinflusst, wie nah die Leser den Charakteren und der Handlung kommen. Eine Ich-Perspektive kann bspw. eine starke emotionale Bindung zwischen Leser und Erzähler schaffen, da sie einen direkten Zugang zu den inneren Gefühlen und Gedanken des Protagonisten bietet. Im Gegensatz dazu kann eine distanzierte dritte Person die Handlung objektiver darstellen und dem Leser eine breitere Sicht auf die Ereignisse ermöglichen.
3.3 Verlässlichkeit und Glaubwürdigkeit
Der Erzähler kann als verlässlich oder unzuverlässig dargestellt werden, was die Wahrnehmung der Geschichte verändert. Ein unzuverlässiger Erzähler, der seine eigene Sichtweise und Interpretation der Ereignisse darstellt, kann Spannung und Tiefe hinzufügen, indem er Zweifel an der Genauigkeit der erzählten Ereignisse weckt.
3.4 Informationskontrolle
Die Erzählperspektive steuert, wie viel und welche Art von Informationen dem Leser zugänglich gemacht werden. Ein Ich-Erzähler oder personaler Erzähler in der dritten Person (aus der Sicht einer einzelnen Figur) kann nur begrenzte Informationen preisgeben, was zu mehr Spannung und Geheimnissen führen kann. Ein allwissender Erzähler kann hingegen Hintergrundinformationen, Gedanken und Motive mehrerer Charaktere offenbaren und ein umfassenderes Verständnis der Geschichte ermöglichen.
3.5 Stil und Ton
Die Erzählperspektive beeinflusst auch den Stil und den Ton des Textes. Ein Ich-Erzähler kann eine persönliche, informelle und subjektive Erzählweise wählen, während ein auktorialer Erzähler eine formellere, objektivere und allumfassende Erzählweise verwenden kann.
3.6 Thematische Tiefe
Durch die Wahl der Erzählperspektive kann der Autor bestimmte Themen und Motive hervorheben. Zum Beispiel kann eine Ich-Perspektive in einer Coming-of-Age-Geschichte die persönlichen Entwicklungen und inneren Konflikte des Protagonisten intensiv beleuchten, während eine auktoriale Perspektive in einem historischen Roman eine breitere gesellschaftliche und historische Kontextualisierung bieten kann.
4. Vor- und Nachteile der Erzählperspektiven
Die Wahl der Erzählperspektive ist eine der wichtigsten Entscheidungen, die ein Autor treffen muss. Jede Perspektive bringt ihre eigenen Vor- und Nachteile mit sich und beeinflusst, wie die Geschichte erzählt und wahrgenommen wird. Hier sind die Vor- und Nachteile der vier Erzählperspektiven:
- Ich-Erzähler
- Er/Sie-Erzähler (personaler Erzähler)
- Allwissender Erzähler (auktorialer Erzähler)
- Neutraler Erzähler
4.1 Ich-Erzähler
Vorteile
- Unmittelbarkeit und Nähe: Der Leser erlebt die Ereignisse direkt durch die Augen des Erzählers, was zu einer starken emotionalen Bindung führen kann.
- Authentizität und Subjektivität: Die Gedanken und Gefühle des Erzählers wirken oft authentischer und persönlicher, da sie direkt aus seiner Sicht geschildert werden.
- Einzigartiger Stil und Stimme: Der Erzähler kann eine unverwechselbare Stimme und einen individuellen Stil haben, was die Geschichte interessanter macht.
Nachteile
- Eingeschränkte Perspektive: Der Ich-Erzähler kann nur berichten, was er selbst erlebt, denkt und fühlt. Ereignisse außerhalb seines Wissensbereichs bleiben dem Leser verborgen.
- Subjektivität: Die Wahrnehmungen und Interpretationen des Ich-Erzählers sind subjektiv und können verzerrt sein, was die Objektivität der Erzählung beeinträchtigen kann.
- Glaubwürdigkeit: Der Leser muss dem Erzähler vertrauen, dass er die Wahrheit sagt. Ein unzuverlässiger Erzähler kann dies erschweren.
4.2 Er/Sie-Erzähler (personaler Erzähler)
Vorteile
- Flexibilität: Der Erzähler kann zwischen verschiedenen Charakteren wechseln und unterschiedliche Perspektiven einnehmen.
- Nähe und Distanz: Der Erzähler kann nah an einem Charakter sein und dessen Gedanken und Gefühle schildern, während er gleichzeitig eine gewisse Distanz bewahrt.
- Mehrdimensionale Charaktere: Durch den Wechsel der Perspektive können die inneren Welten mehrerer Charaktere beleuchtet und komplexe Beziehungen dargestellt werden.
Nachteile
- Komplexität: Der Wechsel zwischen verschiedenen Charakterperspektiven kann verwirrend sein, wenn er nicht sorgfältig ausgeführt wird.
- Eingeschränkte Allwissenheit: Obwohl der Erzähler mehrere Perspektiven einnehmen kann, ist er nicht allwissend und kennt nicht alle Aspekte der Geschichte.
- Verlust an Tiefe: Da der Erzähler nicht so tief in einen einzelnen Charakter eintaucht wie der Ich-Erzähler, kann die emotionale Bindung zum Leser geringer sein.
4.3 Allwissender Erzähler (auktorialer Erzähler)
Vorteile
- Umfassende Perspektive: Der Erzähler kann einen umfassenden Überblick über die gesamte Handlung und alle Charaktere bieten.
- Tiefe und Breite: Der Erzähler kann detaillierte Informationen über die inneren Welten und Motivationen aller Charaktere geben und komplexe Handlungsstränge miteinander verknüpfen.
- Einfache Strukturierung: Da der Erzähler alles weiß, kann er die Geschichte kohärent und klar strukturieren und dem Leser alle notwendigen Informationen geben.
Nachteile
- Distanz: Die Allwissenheit des Erzählers kann eine emotionale Distanz zum Leser schaffen, da die Geschichte weniger subjektiv und persönlich wirkt.
- Geringere Spannung: Da der Erzähler alles weiß, kann es schwieriger sein, Spannung und Überraschung zu erzeugen, da weniger Informationen verborgen bleiben.
- Überladenheit: Der Erzähler könnte versucht sein, zu viele Informationen auf einmal zu geben, was die Geschichte überladen und unübersichtlich machen kann.
4.4 Neutraler Erzähler
Vorteile
- Objektivität und Unparteilichkeit: Da der neutrale Erzähler nicht in die Gedankenwelt der Charaktere eintaucht, bleibt die Darstellung der Ereignisse objektiv. Dies ermöglicht den Lesern, sich ihre eigenen Meinungen und Interpretationen zu bilden.
- Fokus auf Handlung und Dialog: Durch die Konzentration auf sichtbare und hörbare Elemente rückt der neutrale Erzähler die Handlung und die Dialoge in den Vordergrund, was die Geschichte dynamischer und actionreicher machen kann.
- Erzeugung von Spannung: Da keine inneren Gedanken oder Gefühle preisgegeben werden, kann diese Erzählperspektive Spannung aufbauen, indem sie den Lesern weniger Informationen gibt und sie dazu anregt, eigene Schlüsse zu ziehen.
Nachteile
- Begrenzte Tiefe: Die fehlende Einsicht in die inneren Zustände der Charaktere kann dazu führen, dass die Figuren weniger tief und vielschichtig wirken. Die Leser erhalten keine direkte Information über deren Motive, Ängste oder Hoffnungen.
- Emotionale Distanz: Die objektive Darstellung kann eine emotionale Distanz zwischen den Lesern und den Charakteren schaffen, was die Identifikation und das Mitgefühl erschweren kann.
- Potentielle Eintönigkeit: Ohne subjektive Kommentare oder Einsichten in die Gedankenwelt der Charaktere kann die Erzählung gelegentlich monoton wirken, wenn sie nicht durch eine packende Handlung oder lebendige Dialoge ausgeglichen wird.

Über den Autor
Silvan Maaß ist Diplom-Kommunikationswirt (dab) sowie Mitbegründer der Sprachnudel, wodurch er sich seit 20 Jahren beinahe täglich mit theoretischer und angewandter Linguistik beschäftigt. Die Lebendigkeit der Sprache hat es ihm besonders angetan. Daher interessiert er sich insbesondere für Okkasionalismen und Neologismen - zwei kreative Themenfelder der Linguistikforschung, die in unserer Gesellschaft relevanter denn je sind.

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